Bahaullah Primärtext Rezension

Bahá’u’lláh, Ährenlese

Die in der Ährenlese vorgelegten Texte sind ein Querschnitt durch das umfangreiche Offenbarungswerk Bahá’u’lláhs (1817–1892), des Stifters der Bahá’í-Religion. Shoghi Effendi (1896–1957), Urenkel Bahá’u’lláhs und bevollmächtigter Interpret Seiner Lehren, hat diese Auswahl im Jahre 1935 mit Blick auf die Bahá’í des Westens vorgenommen und die Übersetzung aus dem persischen und arabischen Original besorgt.

Die Ährenlese bietet auf begrenztem Raum einen Überblick über die zentralen Lehrgehalte der Bahá’í-Offenbarung. Die 166 Kapitel des Buches sind äußerlich nicht erkennbar strukturiert. Gleichwohl lässt sich der Inhalt des Buches – bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber der Vielschichtigkeit und Unauslotbarkeit des offenbarten Wortes – in fünf Teile gliedern: Nach einem einleitenden Kapitel über die Transzendenz und Erhabenheit Gottes, das den übrigen Texten gleichsam leitmotivisch vorgeordnet ist, deutet der erste Teil (Kapitel 2–18) das Kommen Bahá’u’lláhs als den verheißenen „Tag Gottes“, zugleich der „Tag des Gerichts“, wie auch als Zeit der Erfüllung, der Neuschöpfung, der erneuerten, allumfassenden Gnade.

Im Zentrum des zweiten Teils steht die Gottesoffenbarung. Die Kapitel 19–30 stellen den Bezug zum Göttlichen her: Begriff und Wesen der Offenbarung, Stufe und Funktion des Propheten, der „Manifestation Gottes“, Gottesbild und Gotteserkenntnis. Die historische Dimension der Offenbarung wird in den Kapiteln 31–41 behandelt: die innere Beziehung der geschichtlichen Offenbarungsreligionen zueinander, eingebunden in den heilsgeschichtlich zentralen Gedanken der „fortschreitenden Offenbarung“. Die Kapitel 42–76 schildern die Gegenseite des Offenbarungsgeschehens: Die Reaktion der Menschen auf die Offenbarung Gottes in der Welt.

Grundlegend für das Menschenbild ist der dritte Teil. Die Kapitel 77–86 behandeln Gegenstände wie Verstand, Seele, die Segnungen des Glaubens, das Leben nach dem Tode, die Unsterblichkeit. Die Schöpferkraft des göttlichen Wortes, die Wandlung des Menschen durch den Einfluss der Offenbarung, weitere Aspekte des Menschenbildes und metaphysische Fragen kommen in den Kapiteln 87–99 zur Sprache.

Der vierte Teil ist gesellschaftlich orientiert. Die Kapitel 100–112 beleuchten die „Einheit der Menschheit“ als Gestaltungsauftrag und heilsgeschichtliches Ziel der Offenbarung Bahá’u’lláhs. Die Verkündigung an die Herrscher Seiner Zeit und der programmatische Gedanke des „Geringeren“ und des „Größten Friedens“ umfassen die Kapitel 113–121.
Der fünfte Teil (Kapitel 122–166) ist der Ethik und dem letzten Sinn des Lebens gewidmet: Das „Buch Gottes“ ist die „unfehlbare Waage“, der Maßstab für Gut und Böse, das „höchste Richtmaß der Gerechtigkeit“. Am Anfang des Strebens nach „Glückseligkeit“ steht die doppelte Grundpflicht, Gott anzuerkennen und Seine Gebote zu erfüllen.

Die Textauswahl der Ährenlese ist – nach den Verborgenen Worten und dem Kitáb-i-Íqán – die dritte Übersetzung von Offenbarungstexten Bahá’u’lláhs durch Shoghi Effendi, die in Buchform vorlag. Dem Buch lag ein dringender Bedarf zugrunde: In einer Zeit, da nur ein sehr kleiner Teil des Bahá’í-Schrifttums in einer westlichen Sprache zugänglich war, zudem oft genug in unzureichenden Übersetzungen, war eine derartige Anthologie nahezu unumgänglich, um rasch ein adäquateres Verständnis der Offenbarung Bahá’u’lláhs anhand von Quellentexten zu ermöglichen. Dies galt nicht nur für die Bahá’í des Westens, sondern auch für die gebildete Öffentlichkeit. So kündigte Shoghi Effendi gegenüber Sir Herbert Samuel, dem früheren Hochkommissar für Palästina, die Ährenlese in einem Brief als „Auswahl höchst markanter und bis jetzt unveröffentlichter Texte aus den herausragenden Werken des Stifters der Bahá’í-Offenbarung“ an. Ausdrücklich sah er in diesem Werk „ein Mittel, der Nicht-Bahá’í-Öffentlichkeit die Möglichkeit zu eröffnen“, die Botschaft Bahá’u’lláhs „authentisch“ und „adäquat“ kennenzulernen (Brief im Auftrag Shoghi Effendis vom 10.1.1935).

Die Dringlichkeit der Publikation und die ständige Arbeitslast Shoghi Effendis lassen auch einen augenfälligen Mangel des Werks verstehen: Die einzelnen Texte der Zusammenstellung sind nicht nachgewiesen. Shoghi Effendi hat dies später selbst mit Bedauern konstatiert: „Die in der Ährenlese zitierten Texte sind aus zahllosen Briefen und Schriften zusammengestellt. Nicht alle dieser Quellen hat er schriftlich festgehalten und gegenwärtig fehlt ihm die Zeit, das gesamte Material daraufhin durchzugehen.“ (Brief im Auftrag Shoghi Effendis vom 10.2. 1951) Größten Wert legte Shoghi Effendi jedoch auf eine dem Original angemessene Übersetzung, auch was deren literarische Qualität anbelangt. So beauftragte er George Townshend, den gesamten Text zwischen Dezember 1934 und April 1935 „sorgfältig durchzusehen, um dessen Stil zu verbessern und den Text so idiomatisch wie möglich zu machen“ (Brief im Auftrag Shoghi Effendis vom 16.12. 1934).

Die englische Erstveröffentlichung erschien 1939 in New York unter dem Titel Gleanings from the Writings of Bahá’u’lláh. In deutscher Übersetzung wurden die Texte 1947 bis 1953 in der Zeitschrift Sonne der Wahrheit, 1961 in Buchform veröffentlicht. Die Originaltexte erschienen erstmals 1984 unter dem Titel Múntakhabátí Az Áthár-i Ḥaḍrat-i-Bahá’u’lláh (Bahá’í-Verlag, Hofheim). Nach einem unveränderten Nachdruck der deutschen Übersetzung als Taschenbuch (1971) wurde die dritte Auflage (Hofheim 1980) vollständig überarbeitet und mit einem umfangreichen Index versehen, der bereits nach Kapitel und Abschnitt ausweist. Die Zählung der Kapitel erfolgt nicht mehr mit römischen, sondern mit arabischen Ziffern. Erstmals enthalten ist auch ein Glossar. Für die vierte Auflage (Hofheim 1999) wurden erneut einige Texte überarbeitet, insbesondere wurden die aktuellen Übersetzungen des Kitáb-i-Aqdas (Hofheim 2000) und des Kitáb-i-Íqán (3. revidierte Auflage, Hofheim 2000) eingefügt. Neu war auch die Nummerierung der Abschnitte am Seitenrand. Das Glossar wurde überarbeitet und erweitert, der Index dagegen aus der dritten Auflage übernommen. In der 7. Auflage 2012 wurden wie in den beiden vorausgegangenen Auflagen einige kleinere Fehler korrigiert, aber auch Missverständnisse, die beim Gegenlesen der Originaltexte auffielen (so etwa in Ährenlese 3:2, 15:1, 16:1, 27:6, 46:4, 48, 100:3, 105:2). Bei der aktuellen 8. Auflage 2017 wurde auf den Index verzichtet. Allen, die das als Verlust empfinden, möchte ich deshalb die Gelegenheit geben, hier auf den von mir erstellten Index zuzugreifen.

Der Großteil der Übersetzung der Ährenlese beruht noch ausschließlich auf dem englischen Text, mit lediglich punktueller Berücksichtigung des Originals. Systematisch mit dem Original abgeglichen sind bislang die dem Kitáb-i-Aqdas entnommenen Texte. Die Übernahme der in Anspruch und Verkündigung (Hofheim 2007; dort enthalten sind Ährenlese 65:1-7, 66:1-13, 107, 113:1-24, 114:1-21, 116:1-5, 118:1-7, 119:1-5, 120:1-3 und 158) und in Tabernakel der Einheit (Hofheim 2012; dort vor allem Ährenlese 106) unter Hinzuziehung der persischen und arabischen Originaltexte ebenfalls neu übersetzten Teile steht noch aus. Auch wenn ein Vergleich dieser Übersetzungen zeigt, dass die Übertragung aus dem Englischen dem Original oft erfreulich nahe kommt, lassen die vorhandenen inhaltlichen Abweichungen doch erkennen, dass eine entsprechende Neuübersetzung auch der restlichen Texte angeraten ist. Zusammen mit einem Herkunftsnachweis der einzelnen Kapitel würde dies die Verwendbarkeit des Buches über Erbauung und Liturgie hinaus deutlich erhöhen.

1999/2013