Dieser politisch-philosophische „Traktat über die Zivilisation“ (Risáliy-i-Madaníyyih, geschrieben 1875, im Original persisch) thematisiert die Wünschbarkeit und Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts, sowie dessen Bedingungen. Der Text hat verschiedene Rezeptionsschichten: Von äußeren Anlass her ist er eine Gelegenheitsschrift zur Unterstützung von Reformbestrebungen im zeitgenössischen Persien. Dabei erfolgt nach zwei Seiten eine scharfe Abgrenzung: einerseits gegenüber religiös begründeter Reformfeindlichkeit und einem daraus resultierenden islamischen Isolationismus, andererseits gegenüber einem rein säkularen, materialistisch bestimmten Fortschrittsglauben. Methodisch bedient sich ‘Abdu’l-Bahá dazu einer Neubestimmung der kulturell relevanten Quellen – Koran und muslimische Traditionen (Ḥadíth) – zu den Fragen politisch-gesellschaftlichen Wandels und der kulturellen Assimilationsfähigkeit islamischer Gesellschaften. Dahinter steht jedoch eine umfassende Theorie der Gesellschaft – einschließlich der Frage des bewussten, geplanten gesellschaftlichen Wandels – die den vordergründig persisch-islamischen Kontext bei weitem sprengt.
Zwei Elemente bilden für ‘Abdu’l-Bahá die Grundlage jeder geordneten und zukunftsfähigen Gesellschaft: praktische Vernunft und eine der Religion entstammende Ethik des Gemeinwohls. Ziel des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens ist das Glück. Dieses wird zweifach normativ bestimmt: Es gilt „der Schwelle Gottes…, näher zu kommen“ und ebenso „den Frieden und die Wohlfahrt jedes einzelnen Menschen, … zu sichern“ (59). Die religiösen Tugenden, allen voran Gottesfurcht und Vertrauenswürdigkeit, sind dafür instrumental, werden als Voraussetzung des Seelenheils im „künftigen Leben“ wie als Basis der Gesellschaftsfähigkeit verstanden (39ff). Der Mensch, von Natur aus ambivalent und zum Guten wie zum Bösen fähig, bedarf der Religion, um seine selbstsüchtigen Neigungen zu zügeln, um menschlich zu sein (87). Solche Rechtleitung ist das „höchste Ziel“ (48) des religiösen Gesetzes, das damit eine rationale Begründung erfährt. Diese Bewertung des religiösen Gesetzes geht einher mit einer Neubestimmung des gesellschaftlichen Aspekts von Religion überhaupt: Im Zentrum steht dabei der Kulturwille. Religion – trotz des islamischen Kontextes hier unmissverständlich als universales Phänomen verstanden – ist Religion für die Welt, will Gerechtigkeit, Frieden, Wohlstand und eine zur Mündigkeit führende Bildung für jeden Menschen. Zur Umsetzung dieser Werte bedarf Religion – als normstiftende und motivierende Kraft – der Ergänzung durch praktische Vernunft. Vernunft und Religion sind damit keine Gegensätze, sondern komplementär; Religion hat ein inhärentes Interesse an Aufklärung. Vernunftwidrige, fundamentalistisch-fanatische Religiosität wird ideologiekritisch hinterfragt, mit dem Interesse am Fortbestand der Unmündigkeit der Massen und der Perpetuierung ungerechter sozialer Verhältnisse in Verbindung gebracht.
Die Konzentration auf praktische Vernunft und eine gemeinschaftsstiftende religiöse Ethik bestimmt in der Folge auch die Analysen und Vorschläge ‘Abdu’l-Bahás, die wiederum weit über den konkreten Anlass der zeitgenössischen Krise der persisch-islamischen Gesellschaft hinausweisen. Bezeichnend ist etwa sein Umgang mit einer islamischen Tradition über die ethischen Anforderungen an die ‘Ulamá, die Gelehrten des islamischen religiösen Rechts (38ff). Der Ḥadíth, der traditionell zur Begründung des Führungsanspruchs dieses geistlichen Standes herangezogen wird, wird von ‘Abdu’l-Bahá demokratisch umgedeutet als universelle Bildungsaufgabe. Führung bedarf vor allem anderen ethischer Anstrengung: Die Aneignung der „Attribute geistiger und materieller Vollkommenheit“ (40). Einmal sind dies Eigenschaften wie Gerechtigkeit, Selbstlosigkeit, Unparteilichkeit, reine Absicht und unbedingte Hingabe an das Gemeinwohl, zum anderen die Befähigung, Kenntnisse im Hinblick auf diese Ziele zu bewerten, einzusetzen und zu vermitteln. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Gebildeten, diese Eigenschaften und Fähigkeiten zum Allgemeingut werden zu lassen. Gleichsam unter der Hand werden so die ‘Ulamá gesellschaftlich neu bestimmt: Aus der klar umrissenen, institutionalisierten Schicht der Religionsgelehrten mit einem dezidierten gesellschaftlichen Machtanspruch wird die sehr heterogene Gruppe derer, die sich in der Gesellschaft um Ethik und Bildung mühen.
Die konkreten Empfehlungen spiegeln diese Haltung wider: Demokratie – die ‘Abdu’l-Bahá aus sehr pragmatischen Gründen (vor allem: Herrschaftskontrolle sowie Bündelung und Mediation unterschiedlichster Kenntnisse und Interessen im parlamentarischen Verfahren) empfiehlt – setzt diese Ethik und Befähigung für die Volksvertreter, aber auch in breitester Streuung bei den Wählern, voraus. In der Politik, wie in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik ist es ein Gebot der praktischen Vernunft, das „zu übernehmen und sich anzueignen,… was erprobt wurde und sich als nützlich erwiesen hat“ (102), unabhängig von dessen Herkunft. Das so Angeeignete gilt es ständig weiterzuentwickeln. Für die Politik heißt dies, sich der Fixierung auf widerstreitende partielle Interessen, der ideologischen und demagogischen Aufladung zu entledigen. Ihre Aufgabe ist, auf ethischer Grundlage rationale Problemlösungen zu erarbeiten, dazu geeignet, den inneren Frieden zu garantieren. Diese Grundauffassung von Politik wird visionär auf den zwischenstaatlichen Bereich übertragen: Die Ächtung des Kriegs, eine substantielle Reduzierung der Rüstung, eine verbindliche Fixierung der Grundsätze zwischenstaatlicher Beziehungen wie die einvernehmliche Regelung aller strittiger Fragen soll in einem alle Staaten der Erde umfassenden Vertragswerk festgeschrieben und zur Grundlage eines dauerhaften Völkerbundes gemacht werden, über dessen Einhaltung ein kollektives Sicherheits-system aller Völker wacht. Eine solche institutionalisierte Friedensgarantie wird als Voraussetzung für die „Freiheit aller Völker“ (68) beschrieben.
Bibliographie (2014)
‘Abdu’l-Bahá, Risáliy-i-Madaníyyih, Hofheim 1984 (persisch); deutsche Übersetzung: Das Geheimnis göttlicher Kultur, Oberkalbach 1973; 2. Auflage mit neuer Einleitung: Hofheim 2002. Der Text wurde 1875 verfasst, zuerst ohne Angabe des Verfassers handschriftlich verbreitet, 1892 in Bombay lithographisch vervielfältigt. Die erste Übersetzung durch Johanna Dawud in eine europäische Sprache erschien 1910 in London unter dem Titel The Mysterious Forces of Civilization und wurde als Die geheimnisvollen Mächte der Kultur 1928 bis 1930 in den Jahrgängen 7 bis 9 der Zeitschrift Sonne der Wahrheit deutsch wiedergegeben. Der aktuellen deutschen Ausgabe liegt die englische Übersetzung von Marzieh Gail (The Secret of Divine Civilization, Wilmette 1957) zugrunde.
Literatur: A. Bausani, „Un libro d’attualitá”, Opinioni Bahá’í, Vol. 3, Sommer 1979, S. 19-24; Juan R. I. Cole, Modernity and the Millennium: The Genesis of the Baha’i Faith in the Nineteenth Century Middle East, New York (Columbia University Press) 1998, S. 81-89; ders., “Marking Boundaries, Marking Time: The Iranian Past and the Construction of the Self by Qajar Thinkers”, Iranian Studies 29, nos. 1-2 (Winter/Spring 1996 [1997]):35-56; John William Draper, The History of the Intellectual Development of Europe, 1862 (Auszüge: http://bahai-library.org/excerpts/europe.draper.html); Tahereh Matejko, Islam, Modernität und Identität im Reformdiskurs des Iran der Qagaren. Eine Vergleichsstudie zu Mirza Fathali Ahundzadas Maktubat und Abd al-Bahas Risala-yi madaniya, unveröffentlichte Magisterarbeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Köln, Wintersemester 2013/14; Sen McGlinn, Resāla-ye Madaniya, Encyclopædia Iranica Online 2009, (http://www.iranicaonline.org/articles/resala-ye-madaniya); Moojan Momen, “The Baha’i Influence on the Reform Movements of the Islamic World in the 1860s and 1870s,” Baha’i Studies Bulletin II/2, September 1983, S. 47-65 (http://bahai-library.com/momen_influence_reform_movements); Nader Saiedi, An Introduction to ‘Abdu’l-Bahá’s Secret of Divine Civilization, Landegg Academy, Converging Realities, A Journal of Art, Science and Religion, Vol.1, No. 1, Winter 2000 (http://converge.landegg.edu/Saiedi5.htm); Oliver Scharbrodt, „,Weder vom Osten noch vom Westen.‘ Islam und Moderne in ‘Abdu’l-Bahás ,Das Geheimnis Göttlicher Kultur‘“, Beiträge des Irfán-Kolloquiums 2004, Hofheim 2005, S. 106-129.