Rezension

Udo Schaefer: Der Bahá’í in der modernen Welt

Der Bahá’í in der modernen Welt. Strukturen eines neuen Glaubens (1978, 2. stark erweiterte Auflage 1981) ist eine kritische Analyse der Moderne auf der Basis der geschichtsteleologischen und ethischen Lehren der Bahá’í-Religion. Die Ziele von Selbstbestimmung, Frieden und Gerechtigkeit werden als Menschheitsaufgabe gesehen, die zu ihrer Realisierung einer religiösen Orientierung bedarf. Das Buch ist der erste ernstzunehmende Versuch einer systematischen Inkulturation der Bahá’í-Konzepte in den Problem- und Denkhorizont der europäischen Moderne.

Auf den ersten Blick folgt diese Arbeit dem traditionellen Gang konservativ-religiöser Kritik an der Moderne. Es ist eine Analyse moralisch-ethischen Zerfalls, der Kriminalität und Selbstzerstörung durch alte und neue Süchte, verstärkt durch einen Unschuldswahn, der keine individuelle Schuld und damit auch keine individuelle Verantwortung und keinerlei Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft anerkennen will: Statt dem für tot erklärten Gott wird die Gesellschaft vor das Tribunal der Theodizee gezerrt und zur Selbstauflösung verurteilt. Geschrieben ist diese Analyse aus der Sicht dessen, der von Berufs wegen tagtäglich mit den gerichtsnotorischen Folgen der beschriebenen Entwicklung konfrontiert ist. Als deren Ursache identifiziert Schaefer den „Verfall unserer Wertordnung“, im Verein mit einem Verlust der metaphysischen Verantwortlichkeit für das individuelle Handeln; im Kern ein existentieller Verlust an Religiosität als prägender Kraft im Leben.

Doch ungleich anderer religiös geprägter Wertkonservativer sieht Schaefer kein Heil im Zurück, in der bloßen Erneuerung oder Adaption traditioneller Werte und der sie tragenden religiösen oder gesellschaftlichen Institutionen. Für ihn ist der beklagte Wertverlust zugleich eine notwendige Entwicklung, Sekundäreffekt eines rasant beschleunigten gesellschaftlichen Wandels. Alle bestehenden Bezugssysteme werden obsolet in einer Welt, die zur Bewältigung ihrer zentralen Probleme – Friedenssicherung, Überbevölkerung, Hunger, wirtschaftliche Ungleichheit, Umweltzerstörung – globale Lösungen erfordert.

Obwohl Schaefer rationales Denken und die wissenschaftliche Methode für unentbehrliche Hilfsmittel zur Bewältigung konkreter Probleme sieht, sind sie mit der Lösung dieser Aufgaben überfordert: Hier bedarf es einer normativen Komponente, die – entsprechend der Größe der anstehenden Aufgaben – tief im Menschen verankert werden muß. Für eine solche globale Wertordnung setzt Schaefer auf die Religion; aber nicht als eine Rückbesinnung auf traditionelle Religiosität, auch nicht als synkretistisches oder postmodernes Amalgam aus dem religiösen Traditionsfundus. Statt dessen erwartet er den entscheidenden Impuls aus einem neuen prophetischen Einbruch der Transzendenz in die Welt, aus einer spirituellen Revolution ähnlich denen von Christentum oder Islam, die vor Jahrhunderten gänzlich unerwartet die gesellschaftlichen Bedingungen auf eine völlig neue Grundlage stellten.

Für Schaefer ist diese schöpferische Neubestimmung aller menschlichen Lebensbezüge bereits in nuce gegenwärtig in der Offenbarung Bahá’u’lláhs. Weltfrieden, eine neue Weltordnung auf der Grundlage globaler wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit, der Einheit aller Rassen, Nationen und Religionen unter gleichzeitiger Wahrung der gewachsenen kulturellen Mannigfaltigkeit sind eschatologische Verheißung wie konkreter Gestaltungsauftrag dieser Religion. Schaefer konzentriert sich deshalb in der zweiten Hälfte seines Buchs auf die ethischen und institutionellen Modelle, welche Lehren und Gemeinde Bahá’u’lláhs zur Bewältigung der globalen Herausforderungen einbringen können. Die Darstellung zeichnet sich aus durch eine systematische Rückbindung der vorgestellten Konzepte auf die gesellschaftliche Problemanalyse.

Bei der heutigen Re-Lektüre dieses Buches fällt zweierlei auf: Viele der von Schaefer im ersten Teil prognostizierten (Fehl)Entwicklungen erwiesen sich als überraschend zutreffend, manches hat seine damaligen Befürchtungen sogar übertroffen. Offensichtlich war Schaefers Blick in die Zukunft – ganz unabhängig davon, wie man seine Haltung dazu bewertet – verblüffend hellsichtig. Der zweite Eindruck ergibt sich im Vergleich vor allem mit seinem Alterswerk: Manches in Schaefers Darstellung der Lehre und Gemeinde erscheint im vorliegenden Buch noch reichlich apodiktisch. In seinen späteren Publikationen setzt Schaefer den Fokus weit mehr auf die ethische Verantwortung des Einzelnen und die tragende Rolle der Vernunft: die „selbständige Suche nach Wahrheit“ wird ihm immer mehr zum Schlüssel individueller Erkenntnis der verwandelnden Potenz der Schrift wie zur Voraussetzung ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit.