Primärtext Rezension Shoghi Effendi

Shoghi Effendi: Der verheißene Tag ist gekommen

(Originaltitel: The promised day is come) In der Form eines Briefes, geschrieben im Kriegsjahr 1941, um den Bahá’í aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive Trost und Orientierung zu geben, entwickelt Shoghi Effendi in diesem Text die Grundzüge einer Bahá’í-Geschichtstheologie. Im Zentrum stehen dabei die Durchdringung von Weltgeschichte und Heilsgeschichte und die apokalyptisch-eschatologisch gedeuteten Wirkungen der Offenbarung Bahá’u’lláhs. Der Text ist im Original englisch und richtet sich – wie aus der ursprüngichen Adresszeile ersichtlich – an die Bahá’í des Westens.

Die großen weltgeschichtlichen Ereignisse und Prozesse des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts werden als geistig indizierte Wirkungsgeschichte der Offenbarung Bahá’u’lláhs interpretiert. Dazu legt Shoghi Effendi den Raster zweier gegenläufiger Entwicklungen an: Die sich beschleunigende Erosion herkömmlicher Werte, Ordnungen und Glaubenssysteme und das Heraufdämmern des Neuen, die allmähliche Realisierung einer auf Gerechtigkeit und weltumspannenden Frieden gerichteten innerweltlichen Eschatologie. Kennzeichen der Auflösung und zugleich Voraussetzung für den Bau des Neuen sind die Prozesse der Säkularisierung und Emanzipation, der Zerfall priesterlicher wie monarchischer Gewalt. Kern des Neuen ist die Ordnung Bahá’u’lláhs, in ihrem Vorfeld aber die weltgeschichtliche Aufgabe, den Krieg zu ächten und als Mittel der Politik durch rechtliche und konsultative Mechanismen im Dienste eines global zu bestimmenden Gemeinwohls zu ersetzen. Shoghi Effendi greift dazu – ohne sie erneut auszuführen – auf die bereits früher (in: Die Weltordnung Bahá’u’lláhs) entwickelte Unterscheidung zwischen dem „geringeren“ und dem „Größten“ Frieden zurück. Wo das Alte zerfallen ist, das Neue aber noch nicht Gestalt angenommen hat, entsteht ein Vakuum, in dem widerstreitende Ideologien ihr Wesen treiben, „falsche Götter“, wie Staatsvergottung, Rassismus, Nationalismus und Kommunismus. Diesen ideologisch verzerrten Modellen der Realitätswahrnehmung und Handlungsorientierung werden die Krisen und Kriege beider Jahrhunderte zugeschrieben. In religiöser Metaphorik werden die – gleichsam naturgesetzlichen – Folgen solcher Realitätsblindheit als „göttliches Strafgericht“ für die Verstocktheit der Menschen beschrieben.

Hinter diesen Interpretationen steht die Überzeugung, dass Gott der Herr der Geschichte ist. Zwar ist Geschichte zugleich die Geschichte des für sein Handeln verantwortlichen Menschen, insoweit kontingent im konkreten Detail; aber durch alle Brüche und Wirrnisse der Weltgeschichte zieht sich der rote Faden der Heilsgeschichte: Die periodisch wiederkehrende Offenbarung göttlicher Rechtleitung, universelle Normsetzung für den Menschen. Religion ist so verstanden nicht nur individueller Heilsweg, sondern Motor gesellschaftlicher Entwicklung: Ein göttlich beabsichtigter Erziehungs- und Integrationsprozess, der mit dem Entstehen von Familienstrukturen begann und über verschiedene Formen der Vergesellschaftung bis zum Nationalstaat geführt wurde. Diese organische Evolution hat mit der Offenbarung Bahá’u’lláhs einen neuen, entscheidenden Impuls erhalten: Die Einheit der Menschheit als Summe und Endpunkt dieses Integrationsprozesses, die heilsgeschichtliche Endzeitverheißung vieler Religionen, ist durch den kreativen Akt des Wortes Gottes zugleich möglich und notwendig geworden.

Der verheißene Tag ist gekommen ist zudem ein hervorragendes Beispiel für den interpretativen Stil Shoghi Effendis, für die enge Verbindung von Schriftaussage und deren interpretativer Deutung. Nahezu ein Drittel des Textes sind Zitate aus Werken Bahá’u’lláhs, des Báb und ‘Abdu’l-Bahás, die Shoghi Effendi zumeist für diesen Zweck ins Englische übersetzte.

Bibliographie

Shoghi Effendis Brief trägt das Datum 28. März 1941. Die Erstveröffentlichung des englischen Originals in Buchform (Wilmette, Ill., Bahá’í Pub. committee, 136 Seiten) erfolgte bereits 1941, eine revidierte Neuauflage erschien 1980. Die deutsche Übersetzung durch Adelbert Mühlschlegel erschien zwischen 1947 und 1950 in der Zeitschrift Sonne der Wahrheit, eine Buchausgabe folgte 1967. Umfangreiche Schriftzitate sind u.a. folgenden Texten entnommen: Bahá’u’lláh: Kitáb-i-Íqán, Súratu’l-Mulúk, Lawḥ-i-Páp, Lawḥ-i-Nápulyun (2), Lawḥ-i-Malikih, Lawḥ-i-Sulṭán, Lawḥ-i-Ra’ís, Kitáb-i-Aqdas, Lawḥ-i-Ibn-i-Dhi’b; Der Báb: Bayán-i-Farsí; Dalá’il-i-Sab‘ih, Qayyúm-i-Asmá’; ‘Abdu’l-Bahá: Die sieben Lichtstrahlen der Einheit (aus einer Ansprache in Edinburgh).