Textzusammenhang und Kritik

Textzusammenhang und Kritik

Neben Bahá’u’lláh, dem Religionsstifter selbst, sind es im Bahá’ítum allein ‘Abdu’l-Bahá und Shoghi Effendi, die das im Offenbarungsschrifttum explizit und implizit enthaltene – das dort tatsächlich „Intendierte“ – autoritativ, mithin: verbindlich auslegen können. Alle anderen, so sie sich die Texte zur Richtschnur machen, kommen zwar nicht umhin, den Textgehalt verstehen zu wollen und das heißt unausweichlich: für sich auszulegen; sie können sich dieses Textverständnisses aber nie sicher sein, noch viel weniger, es für andere für verbindlich erklären. Dies gibt den Aussagen ‘Abdu’l-Bahás und Shoghi Effendis einen einzigartigen Status nicht nur bei theologischen Fragen, sondern auch als eine Art normativer Angelpunkt in Fragen des Gemeinderechts (Legalität) und der Ethik (Moralität).

Das Problem dabei: Auch die Aussagen ‘Abdu’l-Bahás und Shoghi Effendis müssen wieder verstanden werden. Die zunehmende zeitliche und kulturelle Distanz macht das nicht eben leichter. Hier kommt ins Spiel, was Keil „Kritik“ nennt: Eine systematische Analyse, die darauf ausgerichtet ist, möglichst alle Begleitumstände einer Aussage zu erhellen, um so deren wahrscheinlicher Intention möglichst nahezukommen: Wann, zu wem, in welcher Situation, aufgrund welcher Begleitumstände und Hintergründe, ggf. welcher Anfrage usw. – mit anderen Worten: in welchem Kontext steht eine gegebene Aussage? Keil zeigt anhand nachvollziehbarer Beispiele aus Briefen Shoghi Effendis, welche Probleme die gängige Praxis nach sich zieht, derartige Aussagen vorwiegend in Kompilationen zugänglich zu machen, die lediglich kleinste, fragmentarische Textauszüge nach thematischen Stichworten gliedern – ohne allen Kontext. Dieser „fast vollständige Verzicht auf den ursprünglichen Textzusammenhang“ resultiert in einem Informationsverlust, „der zur Missdeutung geradezu einlädt“.

Nun sind wir in der erfreulichen Lage, seit dem 19. Jahrhundert auf ein immer reicheres Erbe methodischer Instrumente der „Kritik“ zurückgreifen zu können: hochdifferenziert in Methoden der historischen, hermeneutischen, linguistischen oder literarischen Kritik, der Traditions-, Genre- und Textkritik usw. Wir sollten uns diese Instrumente als wissenschaftliche Verständnishilfen aneignen. Wissenschaftlich sind solche Methoden, insoweit sie selber der methodischen, am Erkenntnisinteresse orientierten Kritik unterworfen sind. In den Worten Keils: „Es genügt jedoch nicht, vorhandene Werkzeuge der Kritik „kritiklos“ zu übernehmen. Vielmehr gilt es, deren Potenzial als Grundlage für die Entwicklung einer Bahá’í-eigenen Methodik, welche die einzigartige Beschaffenheit des Bahá’í-Schrifttums berücksichtigt, zielgerichtet auszuschöpfen.“ Keils Text könnte Ausgangspunkt für eine solche Entwicklung sein.

Der Text erschien erstmals in: Beiträge des Irfán-Kolloquiums 2007/2008, Hofheim 2009, S. 37-90