Übersetzung

Zur Theorie und Praxis der Übersetzung

Jegliche Übersetzung ist bei der Wiedergabe der Sinnmöglichkeiten des Originals diesem unausweichlich unterlegen. Nicht alles, was das Original enthält, lässt sich in einer Übersetzung wiedergeben. Dies gilt umso mehr für einen Offenbarungstext, der unmöglich in all seinen Nuancen in einer Übersetzung einzufangen ist. Es ist deshalb zu erwarten, dass in der Folge einer sich zunehmend vertiefenden Auseinandersetzung mit der Schrift – in Abhängigkeit von den je spezifischen Anliegen – auch unterschiedliche Übersetzungen der originalen Offenbarungstexte entstehen werden. Eine solche Entwicklung ist zu begrüßen, weil sich so auch dem des Arabischen und Persischen Unkundigen ein zugleich breiterer und tieferer Zugang zum Bedeutungsspektrum der Schrift eröffnet.

  1. Autorisierte Übersetzungen

Trotzdem sind „offizielle“ Übersetzungen notwendig: Die Gemeinde braucht einen gemeinsamen sprachlichen Bezugspunkt. Diesem Bedürfnis sollen „autorisierte“ Übersetzungen der Schrift genügen. Eine nicht eben geringe Herausforderung: denn dabei sind sehr unterschiedliche Gesichtspunkte gleichzeitig zu beachten, etwa liturgische, ebenso Fragen der Sprachebene und der Sprachpoesie, aber auch die Verstehensproblematik (zumal in einer kulturell diversen, multiethnischen Gemeinde) usw.

  1. Die Übersetzungen Shoghi Effendis als Vorbild und Muster (vor allem für autorisierte Übersetzungen)

Die Übersetzungen Shoghi Effendis sind dafür ein Lehrstück – eines allerdings, das eine klare Grenze hat. Diese Grenze ist Shoghi Effendis Befugnis zur autoritativen Auslegung der Schrift, wesentlicher Teil seines Amtes als Valí Amru’lláh, als „Hüter des Glaubens“. Nicht etwa, dass es möglich wäre, zu übersetzen ohne zu interpretieren. Quell- und Zielsprache sind niemals deckungsgleich. Keine Übersetzung kann das Original in allen Aspekten vollständig widerspiegeln, jede Übersetzung muss deshalb auswählen, verkürzen, Akzente setzen, insofern: interpretieren. Aber sie muss dabei in den Grenzen der Aussagemöglichkeiten des originalen Wortlauts und des dadurch erschließbaren Textsinns bleiben. Daran ist Shoghi Effendi als autoritativer Ausleger der Schrift nicht gebunden. Darauf komme ich noch zurück (siehe 3.).

Doch zunächst zu dem, worin Shoghi Effendis Übersetzungen als Muster, als anzustrebendes Vorbild dienen können: Die Übersetzungen Shoghi Effendis suchen eine Balance zwischen Texttreue und Leserorientiertheit, zwischen formaler und dynamischer Äquivalenz. Shoghi Effendi ist jederzeit unbedingt dem Text verpflichtet. Aber gerade deshalb will er auch, dass der Text beim Leser ankommt, dass er verstanden wird, inhaltlich, emotional, kulturell, so weit wie möglich auch in der dem Text eigenen Sprachebene und Dynamik. Auch in seiner übersetzten Gestalt soll der Text spirituell anrühren, ergreifen. All dies verbietet es, das Original wörtlich zu übersetzen. Deshalb inkulturiert Shoghi Effendi wiederholt die Beispiele und Sprachbilder des Ausgangstextes, deshalb paraphrasiert er bisweilen, oder nimmt eine erklärende Erweiterung in seine Übersetzung hinein, wo er beim westlichen Leser sonst auf Unverständnis stoßen würde. So ließ er seine Übersetzungen etwa von einem philosophischen Kopf wie Alain Locke gegenlesen. Deshalb schulte er sich zeitlebens an Sprachmodellen der (englischen) Zielsprache, etwa an der King James’ Version der Bibel oder Gibbon, The Decline and Fall of the Roman Empire; deshalb war es ihm wichtig, dass George Townshend ihm Vorschläge machte, wie seine Übersetzungen „idiomatischer“ würden, dem englischen Sprachgebrauch und der impliziten Denkstruktur der englischen Sprache besser entsprechen. Deshalb übernimmt er häufig Städtenamen, die seinem zeitgenössischen westlichen Publikum geläufig sind, zu deren Bildungsvokabular gehören (wie Konstantinopel und Adrianopel), anstelle der landläufigen Namen des Originals.

Wo er einzelne Zitate in seine eigenen Schriften einfügt, arbeitet er gelegentlich spezifische Bedeutungen des Originals heraus, die ihn gerade in diesem speziellen Kontext interessieren. Begriffe und Wendungen übersetzte er nicht konkordant (also nicht einen bestimmten Begriff der Ausgangssprache immer mit demselben Begriff der Zielsprache), sondern kontextuell (d.h. bedeutungsbezogen) – und deshalb sind feste Wortlisten für Übersetzungen ebenso wenig hilfreich wie die unreflektierte Übertragung einer kontextuellen Übersetzung in einen anderen Zusammenhang.

Nimmt man diese Anliegen Shoghi Effendis ernst, dann kann man seine eigenen Schriften und seine englischen Übersetzungen der Texte der Schrift ebenso wenig wörtlich ins Deutsche übertragen. Wörtliche Übersetzungen orientieren sich an der äußeren Form, verwechseln diese mit Texttreue. Es ist unter Bahá’í-Übersetzern unstrittig, sich an Shoghi Effendi zu orientieren: aber eine derartige Orientierung bieten seine Intention und seine Vorgehensweise; nicht der bloße Wortlaut seiner Übersetzungen. Übersetzungen in diesem Geiste können deshalb nicht nach formalen Regeln und Schemata erfolgen, sondern verlangen nach einer vertieften Reflexion en détail. Das ist die wesentliche Aufgabe jedes Übersetzers, der Shoghi Effendi verpflichtet ist. Die von ‘Abdu’l-Bahá empfohlenen Übersetzerteams sollen durch das diskursive Zusammenspiel unterschiedlicher Kompetenzen genau dies ermöglichen.

  1. Auslegende Übersetzungen

Etwas völlig anderes – und hier greife ich die Einschränkung auf, auf die ich oben verwiesen habe – ist ein ganz spezifischer Aspekt, der sich in den Übersetzungen Shoghi Effendis ebenfalls findet: auslegende Übersetzungen, die mehr oder anderes enthalten als der Originalbegriff oder die Aussage des Originals aus ihrem Wortlaut heraus hergibt.

Ein Beispiel dafür ist etwa Ährenlese 106:1, wo es wörtlich übersetzt heißt: „Kümmert euch um das ,Heute‘ und sprecht vom ,Heute‘.“ Shoghi Effendi dagegen übersetzt: „Be anxiously concerned with the needs of the age ye live in, and center your deliberations on its exigencies and requirements.“ (In der aktuellen deutschen Übersetzung: „Befasst euch gründlich mit den Nöten der Zeit, in der ihr lebt, und legt den Schwerpunkt eurer Überlegungen auf ihre Bedürfnisse.“)

Ein weiteres Beispiel ist Kitáb-i-Aqdas 181, wo der Begriff naẓm (ﺍﻠﻧﻅﻢ, dessen Bedeutungs­spektrum von „Ordnung“, „Einrichtung“, „Organisierung“, „Aufbau“ über „Vers“ und „Versform“ bis „Gedicht“, „Harmonie“, „Poesie“ reicht) in der Gemeinde zunächst verstanden wurde als Hinweis auf die innere Organisation des Kitáb-i-Aqdas. Doch Shoghi Effendi übersetzt naẓm hier statt dessen als „World Order“ (im Kontext: „this most great, this new World Oder“; dt.: „Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten durch die Schwungkraft dieser größten, dieser neuen Weltordnung“).

Derartige, den Aussagesinn des originalen Wortlaut übersteigenden Freiheiten in der Übersetzung legitimieren sich allein aus dem Amt Shoghi Effendis als autoritativer Interpret der Schrift. Für einen bloßen Übersetzer verbietet sich alles derartige kategorisch. Unbenommen bleibt ihm, sein Verständnis der entsprechenden Textpassage – deutlich von der Übersetzung abgegrenzt – als persönlichen (und eben nicht autoritativen) Kommentar einzubringen. Dies kann anderen beim Verständnis der Texte durchaus helfen, natürlich ohne sie festzulegen.

Die Interpretationen – und damit auch die Übersetzungen – Shoghi Effendis sind dagegen autoritativ (und in diesem Sinne verbindlich). Shoghi Effendi hat jedoch nie den Anspruch erhoben, dass seine Übersetzung die Fülle und den gesamten Bedeutungsgehalt des Originals erschöpfend abdeckt – ganz im Gegenteil [siehe etwa seine Vorbemerkung zur Übersetzung des Kitáb-i-Íqán] – und folglich ebenso wenig, dass alternative Verständnismöglichkeiten und Übersetzungen des Originals von vornherein ausgeschlossen und illegitim seien.

Angesichts der entscheidenden Stellung des offenbarten Worts im Glaubensverständnis der Bahá’í und eingedenk der Verehrung, die diesem Wort entgegengebracht wird, wird man im Bahá’í-Kontext durchaus von „Heiliger Schrift“ sprechen. Unter diesen Begriff fasst man die Offenbarungstexte, eventuell einschließlich der Texte autoritativer Auslegung [durch ‘Abdu’l-Bahá und Shoghi Effendi]. „Heilige Übersetzungen“ ins Deutsche gibt es dagegen nicht. Mit dem Ende des Hütertums – und damit der autoritativen Auslegung – ist auch die Zeit autoritativer [nicht jedoch: autorisierter – s.o. unter 1.] Übersetzung zu Ende gegangen. Übersetzen und Übersetzungskritik sind damit eindeutig das Feld methodisch-systematischer Reflexion.